das ZOB: Heinz Ratz (Strom&Wasser) – exklusives Fragebogeninterview

in einer neuen artikelreihe bitten wir handverlesene künstler, wissenschaftler und aktivisten mittels exklusiver fragebogeninterviews, kurz ”eFI”, unseren lesern gedanken und eindrücke zu fragen der zeit mitzuteilen. zum auftakt schenkte uns freundlicherweise rainer hartmann von der combo rainer von vielen seine zeit, diesmal antwortete heinz ratz – besser bekannt als mastermind von strom & wasser.

wer die frage, wie man “die schwerstverbrecher” nennen sollte, naheliegenderweise mit “präsident” antwortet und in seinem “CDU-tango” die “bundeskanzlerin” in einer bar aufgabelt, und reimen lässt “ich will nen zungenkuß, weil ich morgen wieder zu dem alten muß” hat bei den regierenden in diesem land ohnedies sicher nicht das leichteste standing. aber was sich das halberstadter landratsamt vor einigen jahren leistete, als der damals noch eher unbekannte künstler mit seinem mal leisen feinen und mal eher gemeinen tanzwütigen projekt strom & wasser gemeinsam mit konstantin wecker unter dem motto “nazis, raus aus unserer stadt” auftreten wollte und die neofaschistische NPD ihre “aktive teilnahme” an dem konzert ankündigt hatte, tat schon richtig weh: der auftritt wurde de facto verboten, auch in hoyerswerda waren kritische lieder unter diesem programmtitel von der obrigkeit nicht gewünscht, mit der fast schon tragikomischen offiziellen begründung, es gebe im ort keine nazis.

im berliner SO36 trat ratz, den wecker gern als einen der “stärksten und eigentümlichsten talente der jüngeren generation” bezeichnet, und aus nicht minder verständlichen gründen lobt, das aus den schwermütigen texten des totalverweigerers, ehemaligen obdachlosen und hörbuchautoren “gefährliche lebenslust und makaberer witz hervorblitzen”, anfang mai bei einem schlichtweg sensationell guten konzert mit einer besonders großen zahl an mitmusikern auf: im frühjahr 2011 hat der mann, der in seinen eigenen liedern mit scharfzüngig formulierten alltagsbeobachtungen, radikaler poesie und sprachwitz glänzt und seinen kampf gegen grauen alltag und stumpfer werdende gesellschaft mit einer mischung aus ska-punk, walzer, tango und akustik-rock untermalt, nämlich knapp 80 flüchtlingslager überall in deutschland besucht. so traf er musiker, oft von weltklasseniveau und in ihrer heimat sehr bekannt, die hier mit reise- und arbeitsverboten behängt, sich oft nicht eimmal ihr instrument leisten können und seit jahren dahinvegetieren. ratz hat einige der musiker nach hamburg eingeladen und mit ihnen ihre stücke aufgenommen – so ist ein album entstanden an dem fast 30 musiker mitwirkten: aus gambia, iran, afghanistan, kenia, russland, der elfenbeinküste, deutschland, dem kosovo, somalia, äthiopien, mazedonien, griechenland – und vielen anderen ländern.

das interview

- welches thema, welches ereignis hat sie 2013 bisher am meisten bewegt – sei es im positiven oder im negativen?

Zutiefst erschreckt hat mich ein Blick in den Artenschwund. Als achtjähriges Kind sah ich einmal eine Fernsehreportage, welche Tiere man schützen müsse, damit sie nicht aussterben und für immer von der Erde verschwinden. Man hat keins von ihnen geschützt.

Privat eher schöne Erlebnisse, so ist z.B. eine alte Freundin, fast 15 Jahre lang gesucht und vermisst, überraschend wieder aufgetaucht – und die Freundschaft knüpfte nahtlos an altes Vertrauen und altes Verstehen an, trotz der langen Kontaktlosigkeit

- vor ein, zwei jahren schien es (etwa durch occupy oder zu stuttgart21), dass auch hierzulande eine neue protestkultur heranwächst. indes sind in deutschland im vergleich zu anderen europäischen staaten viele menschen (weiterhin oder wieder) passiv, obgleich alleine beim thema armut über die offiziellen arbeitslosenzahlen hinaus beispielsweise viele leiharbeiter, minijobber, alte und “arbeitsunfähige” direkt betroffen sind. wie schätzen sie generell die “kraft der strasse” ein? welche protestformen halten sie für sinnvoll, welche weniger? und was denken sie, dass die nächsten ein, zwei jahre tatsächlich passiert?

Die Straße hat große Kraft, denke ich – allerdings wird den Protesten der Straße in der Regel von Seiten des Staates autoritär und gewaltbereit begegnet – was dann wieder Gegengewalt erzeugt und die primitivste Art von Auseinandersetzung. Ich halte es sinnvoll, wenn der Protest früh beginnt, um Eskalationen zu vermeiden. Und er sollte breitflächig sein: Kultur, Politik, Straße. Der Professor neben dem Punk. Ich halte Sanktionen für sinnvoll. Wenn 100.000 Menschen einfach zu Hause bleiben, die Arbeit verweigern. Man kann durch Kaufstopp die mächtigsten Konzerne in die Knie zwingen. Und in den Konzernbüros sitzt ja die eigentliche Macht. Die Schwachstelle eines kapitalistischen Staates ist das Kapital. Ein Motor, der mit Gier gespeist wird, ist ein leicht angreifbarer Motor. Nur muß man dazu seine eigene Gier kontrollieren und selbst zu Eingeständnissen bereit sein. Da die meisten aber handeln erst, wenn die Not tatsächlich auch an ihre Türe klopft. Daher wird in den nächsten ein zwei Jahren gar nichts passieren. 

- (klassische) medien gelten als vierte macht im staat. auch wenn sich immer mehr menschen andersweitig zu informieren suchen, ist die meinungsbildung durch den öffentlich-rechtlichen und privaten rundfunk sowie der tages- und wochenpresse insg. noch immer ziemlich stark. wie beurteilen sie in der gegenwart die “unabhängigkeit” des rundfunks und der presse hierzulande, etwa hinsichtlich kriegsberichterstattung, dem umgang mit sozialen themen oder zu dem, was über die vermeintliche rolle deutschlands in sachen sog. “eurokrise” verbreitet wird?

Durch mein Flüchtlingsprojekt habe ich die Erfahrung gemacht, dass Medien noch eine große Unabhängigkeit haben und tatsächlich noch eine gewisse Macht darstellen. Das finde ich beruhigend. Ich finde auch, dass die Medienlandschaft – auch politisch – in Deutschland und Europa recht breit gefächert ist und verschiedenste Blickwinkel auf politische Gegebenheiten garantiert. Auch das ist sehr positiv und entspricht dem demokratischen Gedanken.

- stichwort bundestagswahl: spd, cdu/csu, fdp und grüne haben in den letzten jahrzehnten auf landes- und bundesebene bereits in fast jeder denkbaren konstellation “zusammengearbeitet”. können sie verstehen, dass viele bürger parteienverdossen sind? und: ohne, dass wir sie jetzt zu einer wahlempfehlung (bzw. zu einem boykottaufruf) nötigen wollen (wobei: sie dürfen natürlich!) – dürfen wir fragen: gehen sie selber noch wählen? wenn ja, wirklich noch aus einem anderen grund als durch fernbleiben nicht indirekt etwaige wahlergebnisse von npd und co. zu stärken? was wuüde sich ihres erachtens hierzulande ändern, wenn menschen massenhaft die wahl verweigern bzw. gezielt “ungültig” wählen?

Ich habe nur ein einziges Mal gewählt. Mit 18. An Parteien glaube ich nicht, nur an einzelne Menschen und da finde ich die politisch aufrichtigen und relevanten viel eher in sozialen Projekten als in Parteien tätig. Der Wille zur Macht ist ein Instinkt des Unglücks – daher mißtraue ich grundsätzlich allen, die – mit welchen Argumenten auch immer – Macht anstreben. Ich finde auch, daß die wichtigen Entscheidungen weniger im Parlament, als in Verhandlungen mit Banken und Konzernen getroffen werden. Seit ich mich für Politik interessiere, habe ich noch nie eine Entscheidung erlebt, die zugunsten des Naturschutzes getroffen wurde, wenn dadurch größere wirtschaftliche Nachteile entstanden wären, sehr wohl aber umgekehrt. Daß es immer nur ums Geld geht, richtet uns zugrunde. Moralisch, politisch und sogar gesundheitlich.

Ich glaube nicht, dass ein Wahlboykott viel bringen würde. Aber eine lebenslange Disqualifizierung von Politikern, die lügen, das würde jedenfalls die politische Landschaft enorm ausdünnen.  

- würden sie unseren lesern abschließend bitte noch (insgesamt! NICHT jeweils) bis zu 10 spiel-/dokumentarfilme, buchtitel, bestimmte autoren, tv-/internet-bewegtbildformate und oder künstler empfehlen, die sie persönlich (jüngst oder auch schon vor jahren) nachhaltig beeinflusst, inspiriert und oder beflügelt haben?

Bücher z.B. von Stanislav Lem, Maxim Gorki, Klabund, Paul Gurk und Franz Werfel. Musik z.B. von Primus, NomeansNo, Lasha, Georg Kreisler, Manfred Maurenbrechers Balladen und Gundermanns letztes Konzert

wir danken ihnen nochmals für ihre antworten!

ÜBRIGENS: das ZOB – ihr zentralorgan für unabhängigen journalismus möchte mit ihrer hilfe liebe leser kontinuierlich und kritisch vom NSU-prozess berichten – unterstützen sie uns bitte mit einer kleinen spende unter http://www.startnext.de/nsu-prozessbeobachter - und oder empfehlen sie unsere arbeit bitte aktiv all ihren freunden und bekannten weiter.

das ZOB: Rainer von Vielen – exklusives Fragebogeninterview

SONY DSCSONY DSC SONY DSC SONY DSC SONY DSCin einer neuen artikelreihe bitten wir fortan handverlesene künstler, wissenschaftler und aktivisten mittels exklusiver fragebogeninterviews, kurz ”eFI”, unseren lesern gedanken und eindrücke zu fragen der zeit mitzuteilen. zum auftakt war rainer hartmann so nett. er ist der sänger der wunderbaren musikformation rainer von vielen – bekannt u.a. durch so famose songs wie tanz deine revolutionkein zurückplan x, neu definieren oder sandbürger, einer aberwitzigen interpretation von sidos mein block (die in viodeoform sogar in splatterszenen endet^^) und last but not least durch die mitarbeit an dem sensationellen theaterstück mythos der freiheit.

- vor ein, zwei jahren schien es (etwa durch occupy oder zu stuttgart21), dass auch hierzulande eine neue protestkultur heranwächst. indes sind in deutschland im vergleich zu anderen europäischen staaten viele menschen (weiterhin oder wieder) passiv, obgleich alleine beim thema armut über die offiziellen arbeitslosenzahlen hinaus beispielsweise viele leiharbeiter, minijobber, alte und “arbeitsunfähige” direkt betroffen sind. wie schätzen sie generell die ”kraft der strasse” ein? welche protestformen halten sie für sinnvoll, welche weniger? und was denken sie, dass die nächsten ein, zwei jahre tatsächlich passiert?

Die Kraft der Strasse liegt darin, dass Probleme bei Entscheidungsträgern überhaupt erst wahrgenommen werden. Nur in den seltensten Fällen kann dadurch wirklich Druck aufgebaut werden. Trotzdem sind Protestmärsche, Demos und politischer Aktivismus notwendig um Themen in den Fokus zu rücken. Ich verabscheue jegliche Form gewalttätiger Meinungsäusserung. Das führt zu keinem Dialog. Im besten Fall zu Schadensbegrenzung. Ansonsten finde ich Protestformen grossartig, die mit dem Szenario in dem sie stattfinden kreativ interagieren. Flashmobs, Nackter Block oder die Clownsarmee sind unterhaltsame Protest-Phänomene. Auch Occupy als dauerhafter Belagerungszustand, der allein durch seine Präsenz die Themen der Protestierer immer wieder auf den Tisch bringt, halte ich für eine gelungene Ausformung der Protestkultur. Die nächsten Jahre werden sich wie immer anders entwickeln, als erwartet. Und die Themen, gegen die es sich lohnt aufzustehen, werden mehr werden.

- (klassische) medien gelten als vierte macht im staat. auch wenn sich immer mehr menschen andersweitig zu informieren suchen, ist die meinungsbildung durch den öffentlich-rechtlichen und privaten rundfunk sowie der tages- und wochenpresse insg. noch immer ziemlich stark. wie beurteilen sie in der gegenwart die “unabhängigkeit” des
rundfunks und der presse hierzulande, etwa hinsichtlich kriegsberichterstattung, dem umgang mit sozialen themen oder zu dem, was über die vermeintliche rolle deutschlands in sachen sog. “eurokrise” verbreitet wird?

Die öffentlich rechtliche Meinung ist stark selektiv und mit Sicherheit durch politische Strömungen gelenkt. Durch alternative Medien im Internet hat jeder, der interessiert ist, die Möglichkeit an Informationen zu gelangen. Die klassischen Medien verlieren dadurch immer mehr an Macht und Bedeutung. Leider ist auch der Protest der Macht der Medien unterworfen. Wenn ein Thema ausgelutscht ist, verschwindet es von der Bildfläche und somit auch aus unseren Köpfen.

- stichwort bundestagswahl: spd, cdu/csu, fdp und grüne haben in den letzten jahrzehnten auf landes-  und bundesebene bereits in fast jeder denkbaren konstellation “zusammengearbeitet”. können sie verstehen, dass viele bürger parteienverdossen sind? und: ohne, dass wir sie jetzt zu einer wahlempfehlung (bzw. zu einem boykottaufruf) nötigen wollen (wobei: sie dürfen natürlich!) – dürfen wir fragen: gehen sie selber noch wählen? wenn ja, wirklich noch aus einem anderen grund als durch fernbleiben nicht indirekt etwaige wahlergebnisse von npd und co. zu stärken? was würde sich ihres erachtens hierzulande ändern, wenn menschen massenhaft die wahl verweigern bzw. gezielt “ungültig” wählen?

Ich selbst gehe zur Wahl, habe dabei zwar das Gefühl, dass sich nicht viel ändert, aber immer noch besser als nicht zur Urne zu schreiten. Wir leben nunmal in einer Demokratie. Bis eine bessere Staatsform gefunden ist, auf die sich alle
einigen können, halte ich einen Wahlboykott für kontraproduktiv. Solange es
Parteien gibt, die ich noch schlechter finde als andere, werde ich das auch weiter praktizieren. Die Verweigerungshaltung würde ich jetzt unverifiziert im linken Spektrum ansiedeln. Daher würde eine massenhafte Wahlverweigerung zu einem Boom der Konservativ- und Rechtsparteien führen. Am System würde sich nichts ändern, da Entscheidungsträger durch das System definiert sind.

- welches thema, welches ereignis hat sie 2013 bisher am meisten bewegt – sei es
im positiven oder im negativen?

Eine Tumor-Diagnose bei meiner Frau. Was sich zum Glück als Fehldiagnose herausgestellt hat.

- würden sie unseren lesern abschließend bitte noch (insgesamt! NICHT jeweils) bis zu 10 spiel-/dokumentarfilme, buchtitel, bestimmte autoren, tv-/internet-bewegtbildformate und oder künstler empfehlen, die sie persönlich (jüngst oder auch schon vor jahren) nachhaltig beeinflusst, inspiriert und oder beflügelt haben?

- “What the Bleep do we know?”, Doku/Spielfim
– “Rettet die Wale”, Gustav (CD)
– “Handbuch für den gewitzten Stadtkrieger”, Der Barfussdoktor
– “Lucky People Center International”, Doku
– “Die Welt ist Klang”, Joachim Ernst Berendt (Hörbuch)
– “Der Erleuchtung ist es egal, wie du sie erlangst”, Thaddeus Golas (Buch)
– “I”, Kid Kopphausen (CD)
– “Mythen der Freiheit”, Theaterstück

lieber rainer – das ZOB dankt ihnen nochmals für ihre antworten!

ÜBRIGENS: das ZOB – Ihr Zentralorgan für unabhängigen Journalismus möchte mit Ihrer Hilfe liebe Leser kontinuierlich und kritisch vom NSU-Prozess berichten – schenken Sie uns bitte ein “Like” unter http://www.startnext.de/nsu-prozessbeobachter - und empfehlen Sie unsere Arbeit bitte aktiv weiter.