achtung berlin inmitten von identitaetssuchern: woyzeck als proband in neukoelln

kulturtipp: das filmfestival “achtung berlin”, von dem sich die berlinale mehr als eine scheibe abschneiden sollte

achtungnoch bis einschliesslich 24. april - namentlich in den drei festivalkinos babylon am rosa-luxemburg-platz, im filmtheater am friedrichshain (FAF) und in der passage neukoelln – gibt es noch persoenliche geschichten ueber traeume und visionen, politische und sozialkritische themen zu entdecken.

“die identitaetssuche in einer unuebersichtlich gewordenen welt” als inhaltlicher schwerpunkt der diesjaehrigen programmauswahl wird von den beiden festivalleitern hajo schäfer und sebastian brose dabei nicht nur behauptet, sondern tatsaechlich in der mehrheit der beitraege – und dies sogar in insgesamt ueberdurchschnittlicher qualitaet – eingeloest.

der eroeffnungsfilm kohlhaas oder die verhaeltnismaessigkeit der mittel (wiederholung am 22.04. um 21.30 im FAF) mitte letzter woche war zwar noch kein paradebeispiel fuer gesellschaftlich-sozial anspruchsvollstes kino, aber fuer einen auf aberwitzige szenen setzenden unterhaltungsfilm auch alles andere als anspruchslos.

Tief in der bayrischen Provinz entsteht das Historiendrama „Kohlhaas“. Doch
schon am ersten Drehtag platzt die Finanzierung. Statt eines mächtigen Epos, das
mit Kostümen und aufwändigen Kulissen beeindrucken sollte, kämpfen nun
erwachsene Männer mit selbst gehäkelten Kettenhemden und verschlissenen Anzügen
in einer zerfallenen Burgruine und bekriegen sich gegenseitig mit imaginären
Schwertern, Pistolen und Handgranaten. Verbissen kämpft Regisseur Lehmann
(Robert Gwisdek) um eine Vision, der die Mittel entzogen wurden. Allein die
Wahrhaftigkeit des Spiels seiner Darsteller und die Fantasie der Zuschauer
sollen nun genügen, um dem Film Glaubwürdigkeit zu verleihen. Trotzdem ist Lehmann auf Unterstützung angewiesen, welche er in dem kleinen Dorf Speckbrodi findet. Hier, wo Filmdrehs noch etwas Außergewöhnliches sind, findet Lehmann Drehorte, Unterkünfte und reichlich begeisterte Darsteller. Doch Lehmanns
eigenwillige Ideen und sein Fundamentalismus bei der Umsetzung des Films
bescheren ihm Anhänger wie Feinde.

allein schon der erste gezeigte block mit mittellangen spielfilmen bot dann aber keinerlei auskommen mehr aus den wechselbaedern, die gefuehle so durchschreiten koennen. zwar faellt die coming-of-age-geschichte mitten am rand im vergleich zu den mitstreitern mutter (ueber die alltagsnoete einer frau die sich zwischen aufreibendem krankenhausjob und der pflege des eigenen im wachkoma liegenden kindes aufreibt) und erst recht gegenueber saturntage (ueber einen depressiven familienvater) etwas ab – das trio der jeweils rund 30-minuetigen produktionen lohnt sich aber allemal – am 21.04. im babylon 2 koennen sie sich davon ueberzeugen.

unser liebling, von den filmen die wir an den ersten tagen bereits sichten konnten, ist jedoch eindeutig rona & nele (21.04. um 18 uhr, babylon 3), der hoffentlich ganz bald auch regulaer ins kino kommt. dem vernehmen nach gibt es noch keinen verleih.

Die erfolglose und einsame Studentin Nele lebt mit ihrer Mutter in Berlin; ihr Leben plätschert so vor sich hin. Das ändert sich, als sie die unkonventionelle Rona beim Klauen im Supermarkt und Wühlen in einem Container beobachtet. Nele heftet sich an ihre Fersen und findet heraus, dass sie in einem leer stehenden Haus in Friedrichshain wohnt. Dabei macht Rona äußerlich überhaupt keinen mittellosen Eindruck; sie ist immer cool gekleidet. Des Rätsels Lösung: Rona klaut und betrügt sich konsequent durchs Leben. Ihr Mut, Ihre Dreistigkeit und ihre Freiheit faszinieren Nele. Nach anfänglichem Zögern freunden sich die beiden unterschiedlichen jungen Frauen an und gehen gemeinsam auf Beutezug durch Berlin. Doch es läuft nicht immer alles glatt … Ein Film über Freundschaft, untermalt mit viel Berliner Lokalkolorit, skurrilen Menschen und bizarren Situationen.

der langfilm der italienisch-staemmigen regisseurin silvia chiogna streift von obdachlosigkeit und gentrifizierung ueber einsamkeit und ellenbogengesellschaft bis hin zu zwangseinweisungen viele vom mainstream nur allzu gern ausgeblendete oder wenn dann zumeist stigmatisierend behandelte themen und ist ein auch musikalisch wunderbar inszenierter appell an mehr solidaritaet, der eine menge waerme und freiheitsdrang ausstrahlt. die hauptfigur rona, die auch wegen sprichwoertlicher beruehrungsaengste zunsaechst allein versucht, ein weitgehend selbstbestimmtes leben zu fuehren, wird von amelie kiefer schlichtweg beeindruckendst verkoerpert.

von den dokumentarfilmen moechten wir ihnen zudem unbedingt palast (wiederholung 24.04. – um 19.45 babylon 2) ans herz legen. einfuehlsam wird das leben mehrerer bewohner des sog. sozialpalasts in berlin-schoeneberg, ecke pallasstraße portaitiert – mit fuenfhundertvierzehn wohnungen und ueber zweitausend bewohnern eine der groessten wohnanlagen deutschlands. julian vogel beweist, dass die auch vom rbb (der hier vom lustigerweise^^ co-produzierend war) genaehrten vorurteile, diese und andere ecken berlins seien ein blosser hort von kriminalitaet, vandalismus und drogen ammenmaerchen sind und ist so nebenbei ein paradebeispiel dafuer, dass filmemacher vorurteile aufbrechen koennen, wenn sie anders als die mainstreammedien in vielen dokus sich wirklich fuer menschen interessieren.

besonders viel versprechend erscheint uns zudem aufgrund der nominellen    themensetzung folgende produktionen des spielfilmwettbewerbs, die wir bisher verpasst haben, aber die am 23.04. um 19.15 nochmals in der passage in neukoelln auf dem programm steht: woyzeck (szenenfoto oben) in der regie von nuran david calis: [ACHTUNG - hierzu wurde am 23.04. ein nachtrag noetig - siehe unten unter ***]

Der junge mittellose Franz Woyzeck (Tom Schilling) lebt mit seiner Freundin Marie (Nora von Waldstätten) und dem unehelichen Kind in einer kleinen Wohnung in Neukölln. Vor einiger Zeit verlor er sein Restaurant an den Hauptmann und tut momentan alles, um es sich zurück zu erarbeiten. In seiner Verzweiflung nimmt er an einer ominösen  medizinischen Studie teil, bei der er undefinierbare Pillen schlucken muss, die ihm Wahnvorstellungen, Halluzinationen und vorübergehende Impotenz    bescheren…

nachtrag vom 22.04.: unbedingt auch sehenswert finden wir staudamm (wiederholung 24.04., 19.15 im FAF), eine geschichte, die der “motivation” eines jugendlichen amoklaeufers sowie den seelischen folgen einer uebrlebenden eines schulmassakers nachzuspueren versucht; hingegen etwas enttaeuschend fanden wir freiland (wiederholung 22.04. um 21.30 passage neukoelln) welcher vor dem hintergrund von waehrungsinstabilitaeten damit kokettiert, was passieren koennte, wenn eine bunt gemischte truppe von aussteigern irgendwo im brandenburgischen einen eigenen staat gruendet und vor allem an drei zentralen punkten scheitert. zum einen, weil gerade herbst und selbstversorgungdaher etwas schwierig ist; auch weil einer glaubt, zum fuehrer geboren zu sein und sich zum anderen sowieso alles um pärchenbildung und geld dreht.

***nachtrag vom 23.04.: inzwischen haben wir die neue, in berlin spielende woyzeck-verfilmung gesehen und wuerden den streifen wegen unserer meinung nach zumindest sehr fragwuerdiger milieuzeichnung nicht mehr vorbehaltlos empfehlen wollen —